Digi-Terror

von | 21.02.2020 | Projektfalle der Woche

Kennen Sie das? Sie arbeiten an einer digitalen Lösung für einen Geschäftsprozess. Mindestens ein Software-Tool ist im Spiel und soll angepasst werden. Und auf einmal muss alles „digi“ sein.

„Ich dachte, wir machen hier Digitalisierung!“ heisst es dann von Kunden, Nutzern oder Geschäftsbereichsvertretern. Da wird die Nutzung von Grundfunktionalität zum manuellen Workaround, der niemandem mehr zuzumuten ist.

Ein Beispiel aus der Praxis

Dem Produktmanagement werden die Verkaufszahlen für die verschiedenen Sales Manager angezeigt. Die Information kommt aus den Produkt-Stammdaten in SAP. Ob das die sinnvollste Zuordnung ist, darüber lässt sich streiten. Stand im Projekt: Das Datenmodell steht (endlich) stabil, der Datenstrom funktioniert auch mit den automatischen Updates, alle Schnittstellen sind abgenommen. Einige Abteilungen arbeiten schon mit dem Tool, andere sind mitten im operativen Go-live. Der Backlog von offenen Themen reicht noch für Wochen, und jeden Tag tauchen Bugs und Fragen auf, die die Kapazität des Projekt-Teams in Beschlag nehmen.

Genau jetzt kommt die Anfrage, die Zuordnung der Sales Manager zu ändern. Aus den Umsatzzahlen soll sie kommen, denn es macht nicht nur der oder die eine Sales ManagerIn Umsatz mit dem Produkt, sondern mehrere. Das ist schon mal gut fürs Geschäft. Dummerweise bedeutet die Anforderung eine Änderung im Datenmodell, in den Schnittstellen, in der Anreicherungslogik im empfangenden System und den Datenbank-Skripten für die weitere Verarbeitung der Daten. Nicht unbedingt der beste Zeitpunkt für den Change.

Der Lösungsvorschlag

Beim Validieren der Anforderung wird schnell klar: Die Daten heute sind nicht falsch, sie sind nur nicht vollständig. Immer mal wieder fehlt ein Einzelfall. Es geht um die Gesprächsvorbereitung für die monatlichen oder Quartals-Gespräche zwischen Produktmanagement und Sales Manager. Also kein täglicher ad-hoc Abruf, sondern ein Termin, der mit Vorbereitungszeit verbunden ist. Man sollte meinen, das liesse Luft, die Anforderung in den Backlog zu packen. Als Übergangslösung schlägt das Team vor, die Daten aus einem anderen Report zu ziehen und die dort ermittelten Sales Manager in der neuen Anwendung zu selektieren. Die Auswahl kann in den Favoriten der Nutzer gespeichert werden und steht so auch für das nächste Monatsgespräch zur Verfügung.

Manueller Workaround nicht zumutbar

„Nein, ein manueller Workaround ist nicht zumutbar! Das akzeptieren wir nicht.“ Und wieso nicht? „Ich dachte, wir machen hier eine digi-Lösung! Und jetzt sollen die User manuell selbst etwas auswählen! Das kommt nicht in Frage.“

Aha.

Seit wann genau ist die Nutzung von Grundfunktionalität ein manueller Workaround?

Also, wir können ja jetzt noch ein paar Jahre warten, bis wir alle Chips implantiert haben, mit deren Hilfe unsere Gedanken automatisch den beteiligten Software-Systemen mitteilen, welche Tasten wir gedrückt hätten, wenn wir das noch manuell tun müssten. Wir können auch fordern, dass sowohl Software als auch Menschen telepathisch unsere Ansprüche inhalieren und sich gehorsam darauf einstellen, uns zu Willen zu sein. Bevor es aber so weit ist – und ich hoffe, dass das noch ganz lange dauert! -, sollte uns allen klar sein, dass Digitalisierung nicht bedeutet, dass wir von einem manuellen Papierprozess direkt ins no-touch Universum katapultiert werden.

Digitalisierung heisst nicht, dass Menschen nicht mehr beteiligt sind

Wir brauchen ein Grundverständnis für die Möglichkeiten und Grenzen von Software und Datenmodellen, und die Bereitschaft, die zur Verfügung stehenden Funktionen kreativ zu nutzen. Und dazu gehört Stand heute auch, dass Nutzer die Tasten drücken, Layouts anpassen und Favoriten nutzen. Wenn wir den Prozess im Griff haben, dann können wir auch an die schicken Extras gehen.